„Von einer Rückführung aller Schwangeren ist grundsätzlich abzusehen“ (ab Dezember 1942)

Am 15. Dezember 1942 wandte sich der „Generalbevollmächtige für den Arbeitseinsatz“ (GBA) Fritz Sauckel[13] an die Präsidenten der Landesarbeitsämter und ordnete an:

  1. "Von einer Rückführung aller Schwangeren, sonst aber einsatzfähigen Ostarbeiterinnen ist grundsätzlich abzusehen."
  2. "Bei Angehörigen anderer Nationalitäten ist die Rückführung nur ganz ausnahmsweise auf eigenen Wunsch der Schwangeren einzuleiten, wenn einsatzmäßige Erwägungen nicht entgegenstehen und angenommen werden kann, dass die Schwangere die Reise ohne eigenen Schaden übersteht.“

Insbesondere Punkt 1 des Erlasses ist einigermaßen unklar: Was wollte Sauckel mit dieser Formulierung ausdrücken? Sie ist wahrscheinlich dahin gehend zu deuten, dass der Begriff „Ostarbeiterinnen“ als Oberbegriff benutzt wurde und alle Zwangsarbeiterinnen aus Polen und der Sowjetunion umfasste. Italienerinnen, Französinnen, Belgierinnen, Niederländerinnen etc. waren dann die „Angehörigen anderer Nationalitäten“. Als Begründung für diese zunächst bis zum 31. März 1943 befristete Anordnung führte der GBA an: „Dabei standen für mich die im Kriege besonders vordringlichen Gesichtspunkte des Arbeitseinsatzes an erster Stelle.“[14]

Obwohl es sich hier um eine auf drei Monate befristete Anordnung handelte, wurden die Landesarbeitsämter trotzdem schon angewiesen, für „unbedingt notwendige Entbindungsmöglichkeiten zu sorgen. Sie können in einfachster aber in hygienisch einwandfreier Form erstellt werden“, z.B. in den behelfsmäßigen Ausländerkrankenbaracken, „die die Arbeitseinsatzverwaltung öffentlichen Krankenhäusern zur Verfügung gestellt hat,“ oder in den Krankenbaracken der Betriebe. Letztendlich wollte man es aus Kostengründen vermeiden, „besondere Einrichtungen“ neu zu errichten. Außerdem sollten in „verständnisvoller Zusammenarbeit mit den Betrieben Still-Einrichtungen und Kleinkinderbetreuungs-Einrichtungen einfachster Art“ geschaffen werden. Aber: „Unter keinen Umständen dürfen die Kinder durch deutsche Einrichtungen betreut werden, in Kinderheimen den deutschen Kindern Platz wegnehmen oder sonst mit diesen gemeinsam erzogen werden. Im Allgemeinen wird es zweckmäßig sein, sie von weiblichen Angehörigen des entsprechenden Volkstums betreuen zu lassen.“ Hier sind die Grundzüge der späteren „Ausländerkinder-Pflegestätten“ bereits deutlich erkennbar, insbesondere auch durch folgende Bestimmung: „Weiter sind die Kinder von gutrassigen Polinnen in die Sondereinrichtungen der NSV für gutrassige Kinder aus dem Osten zu überweisen.“[15]

 

Die Umsetzung des Erlasses vom 15. Dezember 1942 in Schleswig-Holstein

Der Präsident des Landesarbeitsamtes Nordmark (mit Sitz in Hamburg) reagierte am 24. Dezember 1942 auf diesen Erlass und informierte u.a. den Oberpräsidenten der Provinz Schleswig-Holstein (mit Sitz in Kiel): „Danach ist zuerst einmal befristet bis zum 31.1.1943 eine völlige Umstellung des bisherigen Verfahrens eingeleitet worden. Ich bemerke dazu, dass auf der Sitzung der Präsidenten der Landesarbeitsämter und der Reichstreuhänder, die in der letzten Woche in Hamburg stattfand, die Notwendigkeit einer neuen Regelung auf’s eindrucksvollste herausgestellt wurde.“[16] Am 8. Januar 1943 informierte der Präsident alle Angeschriebenen darüber, dass die Angabe des Befristungsdatums falsch war, die Befristung war bis zum 31. März 1943 vorgesehen. Inhaltlich präferierte er „zur Sicherung der Niederkünfte“ eine zentrale Lösung: „Ich würde es sehr begrüßen, wenn es gelingen würde, große Entbindungskliniken, Hebammenlehranstalten oder Gebäranstalten zu dieser Aufgabe heranzuziehen.“ Eine dezentrale Lösung lehnte der Präsident (zunächst) ab: „Die Sicherung einer, wenn auch nur primitiven Hygiene dieser Geburten wird in den Betriebslagern wahrscheinlich mehr Arbeit verursachen und mehr deutsche Kräfte des Sanitätsdienstes und der Ärzte binden als in den Gebäranstalten.“ Grundsätzlich sei aber „eine strenge Isolierung der Polinnen und Ostarbeiterinnen“ zu beachten. Es müsse auf jeden Fall vermieden werden, „besonders die östlichen Arbeitskräfte mit deutschen Frauen zusammenzubringen.“[17]

Eine zentrale Lösung des Problems wurde in den folgenden Tagen diskutiert, führte aber zu keinem Ergebnis: Das Ausweichkrankenhaus in Neustadt hatte keinen weiteren Platz für zusätzlich Barackenbauten. Die Universitätsfrauenklinik in Kiel litt schon seit langem unter Raummangel. Und die übrigen Krankenhäuser in den Städten der Provinz und im Landbezirk seien z.Zt. ständig überfüllt und könnten daher nicht herangezogen werden. Der leitende Medizinalbeamte beim Oberpräsidenten machte dann noch folgenden Vorschlag: „Geeignet für die Einrichtung einer solchen Entbindungsabteilung wäre vielleicht auch das Allgemeine Krankenhaus in Lübeck, welches durch die Einbeziehung der früheren Heil- und Pflegeanstalt Strecknitz wesentlich erweitert worden ist.“[18]

Doch auch dieser Vorschlag scheint nicht unbedingt zu einer Lösung des Problems beigetragen zu haben. Der Präsident des Landesarbeitsamtes Nordmark ließ aber nicht locker und resümierte am 10. Februar 1943 in einem Schreiben an den Oberpräsidenten: „Die Zahl [der Entbindungen] kann aber durchaus schwanken und wachsen, und es kann möglich sein, dass neben den verstreuten Entbindungsmöglichkeiten doch die Einrichtung einer Zentralentbindungsmöglichkeit notwendig werden wird.“[19]

 

Die Verwunderung eines Arztes an der Kieler Uniklinik (Januar 1943)

Am 16. Januar 1943 schrieb Prof. Dr. E. Philipp als Direktor der Universitäts-Frauenklinik Kiel an den Regierungspräsidenten (mit Sitz in Schleswig): „Der Universitäts-Frauenklinik werden in steigendem Maße ausländische Schwangere und ausländische Gebärende zur Behandlung überwiesen und zwar meist durch die Arbeitsämter der Provinz. Die Behandlung in der Klinik lässt sich im allgemeinen reibungslos durchführen. Die große Schwierigkeit besteht aber darin, dass die Frauen mit ihren Kindern nach der Entbindung nicht untergebracht werden können.“[20] Das Gesundheitsamt der Stadt Kiel hätte es auch abgelehnt, zukünftig „ausländische Wöchnerinnen und Kinder“ unterzubringen. Prof. Philipp forderte deshalb: „Hier muss Abhilfe geschaffen werden. Entweder werden alle ausländischen Schwangeren sofort in ihre Heimat geschafft, wodurch zahlenmäßig natürlich eine Entlastung erfolgt, oder aber es muss ein Auffanglager für ausländische Mütter und deren Kinder geschaffen werden, was wohl am besten zentral irgendwo in der Provinz errichtet würde.“

Der Professor war offensichtlich noch nicht über die generelle Kehrtwendung beim Umgang mit schwangeren ausländischen Arbeitskräften informiert und machte dies auch im weiteren Verlauf seines Schreibens deutlich: „Ich könnte mir denken, dass die neu errichtete geburtshilfliche Station des Auffangkrankenhauses in Neustadt für die Betreuung der ausländischen Mütter in Frage kommen würde. Eine kleinere Einrichtung dieser Art wird man auf alle Fälle errichten müssen, denn einige ausländische Arbeiterinnen werden trotz der Bestimmung, sie in der Schwangerschaft zurück zu transportieren, bis zur Entbindung hier bleiben und können dann in diesem Zustand nicht abgewiesen werden.“[21] Am 29. Januar 1943 erhielt Professor Philipp vom Regierungspräsidenten eine beruhigende Antwort: „Mit Rücksicht auf den bei der Univ. Frauen-Klinik in Kiel schon seit langem bestehenden Raummangel wurde eine Lösung dieser Frage in Kiel nicht für möglich gehalten.“[22] Außerdem wurde ihm eine Abschrift des GBA-Erlasses vom 15. Dezember 1942 mitgeschickt.

 

Der Landrat von Pinneberg schafft Fakten (Februar 1943)

Der Präsident des Landesarbeitsamtes Nordmark hatte in seinem Schreiben vom 18. Januar 1943 den Oberpräsidenten der Provinz Schleswig-Holstein gebeten, insbesondere auf „die Herren Landräte“ einzuwirken, damit der GBA-Erlass vom 15. Dezember 1942 umgesetzt werden könnte. Dementsprechend fand schon am 19. Januar 1943 in Pinneberg eine Besprechung statt, deren Ergebnisse der Landrat Kracht einen Tag später handschriftlich zu Papier brachte: „Da von einer Rückführung aller schwangeren, sonst aber einsatzfähigen Ostarbeiterinnen zunächst bis zum 31.3.42 grundsätzlich abzusehen ist, ist wie folgt zu verfahren:

  1. Die Entbindung erfolgt in der in Uetersen bereitstehenden Baracke.
  2. Für die Beschaffung der notwendigen Säuglingswäsche usw. ist das Kreiswirtschaftsamt mit Anweisung versehen.
  3. Das Arbeitsamt wird bemüht sein, die Kindesmutter mit dem Säugling bei dem früheren Arbeitgeber wieder unterzubringen. Sofern der Arbeitgeber sich weigert, wird die Mutter bei der Firma Wuppermann in Pinneberg in Arbeit vermittelt. Hier ist auch Platz und Gelegenheit für die Betreuung der Säuglinge vorhanden.
Zur Bestreitung der Kosten sind Krankenkassen und Erzeuger heranzuziehen. Eventuell trägt das Arbeitsamt die Kosten (Reichsstock).“[23]

Auch wenn das hier genannte Datum falsch ist und richtig 31.3.43 lauten muss, so war dem Landrat (durch die Unterstreichung) doch auch aufgefallen, dass der GBA-Erlass sich nur auf „Ostarbeiterinnen“ bezog. Außerdem war ihm klar, dass die Befristung wahrscheinlich in einen dauerhaften Zustand umgewandelt werden würde: „Wenn der Erlass des Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz auch zunächst bis zum 31. März 1943 befristet ist, so ist doch anzunehmen, dass er über diesen Zeitpunkt hinaus noch Geltung haben wird.“[24]

Am 24. Februar 1943 fand in Neumünster eine Besprechung der Leiter der Wohlfahrts- und Fürsorgeämter der Provinz Schleswig-Holstein statt, bei der es u.a. um die „Behandlung unehelicher Kinder von ausländischen weiblichen Arbeitskräften“ ging. Die Anwesenden waren offensichtlich schon gut darüber informiert, dass man auf Reichsebene plante, die Neugeborenen unter gewissen Voraussetzungen von ihren Müttern zu trennen: „Die Frage der Einleitung von Pflegschaften oder Vormundschaften für Kinder ausländischer weiblicher Arbeitskräfte ist bisher noch nicht endgültig geregelt.“ Und „wegen der Aufnahme der Kinder in Heimen bezw. Tagesstätten werden noch weitere Bestimmungen zu erwarten sein.“ Es war also offensichtlich noch zu früh, um in diese Richtung Beschlüsse zu fassen. Einig war man sich aber über Folgendes: „Fest steht schon jetzt, dass die zunächst bis zum 31. März 1943 befristete Anordnung des Verbleibens schwangerer Frauen im Reich weiterhin Geltung haben wird.“[25]

 

Der erläuternde Erlass des GBA vom 20. März 1943

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© Uwe Fentsahm (Brügge, Juni 2020)


[13] Fritz Sauckel hatte das neue Amt am 21. März 1942 angetreten. Er unterstand in dieser Funktion aber weiterhin dem „Beauftragten für den Vierjahresplan“ Hermann Göring. Der Erlass des GBA vom 15. Dezember 1942 ist vollständig abgedruckt bei Raimond Reiter (wie Anm. 12), S.247 f.. Amtliche Abschriften des Erlasses finden sich auch in: LASH Abt. 320.12 Nr. 933 und in: LASH Abt. 611 Nr. 634.

[14] Vgl. dazu die (sehr komprimierte) Darstellung bei Ulrich Herbert: Fremdarbeiter. Politik und Praxis des "Ausländer-Einsatzes" in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches, 2. Auflage 1986, S.249; Bernhild Vögel (wie Anm. 12), S.14 f., 35 und 39; Raimond Reiter (wie Anm. 12), S.53 f.; Nils Köhler: Das Schicksal der „Ausländerkinder“ in Nordfriesland, in: Uwe Danker, Nils Köhler u.a. (Hrsg.), Zwangsarbeitende im Kreis Nordfriesland 1939-1945, Bielefeld 2004, S.222 f.

[15] Erlass des GBA vom 15. Dezember 1942 (wie Anm. 13); NSV = Nationalsozialistische Volkswohlfahrt e.V.

[16] Mit der „Sitzung in Hamburg“ ist das Treffen gemeint, das der GBA Sauckel nutzte, um die Kernpunkte seines Erlasses vom 15. Dezember 1942 einer breiteren Öffentlichkeit vorzutragen. Die Anwesenheit Sauckels ergibt sich aus dem Schreiben des Präsidenten des Landesarbeitsamtes Nordmark vom 18. Januar 1943 an den Oberpräsidenten, in: LASH Abt. 611 Nr. 634. Siehe dazu auch Sebastian Lehmann: Schwangerschaft und Zwangsarbeit in Schleswig-Holstein, in: Uwe Danker, Nils Köhler, Sebastian Lehmann u.a. (Hrsg.): Zwangsarbeit und Krankheit in Schleswig-Holstein 1939-1945, Bielefeld 2001, S.202.

[17] Schreiben des Präsidenten des Landesarbeitsamtes Nordmark vom 24. Dezember 1942, in: LASH Abt. 611 Nr. 634.

[18] Schreiben vom 29. Januar 1943, in: ebd.

[19] Schreiben des Präsidenten des Landesarbeitsamtes Nordmark vom 10. Februar 1943, in: LASH Abt. 611 Nr. 634. Vgl. hierzu auch Sebastian Lehmann (wie Anm. 16), S.203.

[20] Schreiben des Direktors der Universitäts-Frauenklinik vom 16. Januar 1943, in: LASH Abt. 611 Nr. 634.

[21] Ebd.

[22] Schreiben vom 29. Januar 1943, in: ebd.

[23] Handschriftlicher Entwurf einer Rundverfügung des Pinneberger Landrats vom 20. Januar 1943, in: LASH Abt. 320.12 Nr.933.

[24] Schreiben des Pinneberger Landrats vom 11. Februar 1943 an alle Bürgermeister des Kreises, in: LASH Abt. 320.12 Nr.933.

[25] Schreiben des Oberbürgermeisters von Flensburg, Dr. Ernst Kracht, in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der Provinzialdienststelle des Deutschen Gemeindetages vom 3. April 1943 an die Jugendämter der Stadt- und Landkreise, in: LASH Abt. 320.12 Nr.933.