„Ausländerkinder-Pflegestätten“ – ein Euphemismus und seine historisch-politischen Hintergründe

von Uwe Fentsahm

Die Arbeit an dem Beitrag über das „Ostarbeiter-Kinderheim“ in Wiemersdorf führte zu der Erkenntnis, dass die seit 1943 offiziell vorgesehene Bezeichnung „Ausländerkinder-Pflegestätte“ nirgendwo in Schleswig-Holstein benutzt worden ist. Im Verwaltungsalltag hat sich diese von Himmler gewünschte, aber insgesamt doch recht umständliche Bezeichnung nicht durchgesetzt. Der Begriff wurde von den Verantwortlichen nach eigenem Gutdünken umschrieben, jedenfalls ist bisher für Schleswig-Holstein kein Dokument gefunden worden, in dem er benutzt wird. In anderen Gegenden, wie z.B. im Kreis Dannenberg (Niedersachsen), war dieser Begriff damals durchaus geläufig und wurde auch in entsprechenden Formularen benutzt:

 

Verpflichtende Erklärung eines Betriebsleiters: „Ich verpflichte mich, für die Dauer der Aufnahme des Kindes in Lefitz in einer Ausländer-Kinderpflegestätte im Kreise Dannenberg von der Mutter (bzw. dem Vater) des Kindes … den festgesetzten Anteil an den Unterhaltskosten vom Lohn abzuziehen und monatlich zum 1. jeden Monats im Voraus an die Ausländerkinderpflegestätte Lefitz einzuzahlen.“[1] Das bedeutete, dass die Eltern für den erzwungenen Aufenthalt ihres Kindes in einer sogenannten „Kinderpflegestätte“ auch noch bezahlen mussten.

Marc Spoerer schätzt, dass „die Anzahl der in deutschen Ausländerkinder-Pflegestätten verhungerten Kinder von Polinnen und Ostarbeiterinnen … mit großer Sicherheit in die zehntausende gehen“ dürfte.[2] Diese Tatsache ist aber aus dem „kollektiven Gedächtnis“ verschwunden und nicht mehr hinreichend bekannt. In Zukunft sollte es darum gehen, die für Schleswig-Holstein vorliegenden Hinweise zu konkretisieren und den Nachweis zu führen, wo es tatsächlich solche Einrichtungen gegeben hat. Außerdem sollten die Namen derjenigen genannt werden, die Opfer dieser menschenverachtenden Praxis geworden sind.

 

Der „Rückführungs“-Erlass des Reichsarbeitsministers (RAM) vom 13. August 1941

Trotz der Vielzahl an Präventivmaßnahmen des NS-Regimes gehörte es zum Alltag des Aufenthalts von Zwangsarbeiterinnen im Deutschen Reich, dass diese - freiwillig oder auch nicht freiwillig – schwanger wurden. Es hatte sich zudem herumgesprochen, dass schwangere Zwangsarbeiterinnen auf Kosten des deutschen Staates in ihre Heimat zurückgebracht werden. Um den deutschen Staat von der Versorgungsproblematik für die Schwangeren zu entlasten, wurde deshalb von den Verantwortlichen beschlossen, lieber auf die Arbeitskraft dieser Frauen zu verzichten. Am 13. August 1941 verfügte der Reichsarbeitsminister Franz Seldte in einem 9-Punkte-Erlass an die Landesarbeitsämter und Arbeitsämter: „1. Grundsätzlich sind schwangere ausländische Arbeiterinnen sofort nach Bekanntwerden der Schwangerschaft, unabhängig von deren Dauer und dem Zeitpunkt der Feststellung, in die Heimat zurückzubefördern. Die Betriebe, denen ausländische Arbeiterinnen zugewiesen werden, sind daher zu verpflichten, das Arbeitsamt unverzüglich zu unterrichten, sobald sie von der Schwangerschaft eines ihrer weiblichen ausländischen Gefolgschaftsmitglieder Kenntnis erhalten.“[3]

Der Landrat des Kreises Pinneberg war offensichtlich durch Beziehungen sehr gut vernetzt und informierte (in seiner Eigenschaft als Bezirksfürsorgeverband) schon zwei Tage später die Bürgermeister des Kreises: „Von großer Bedeutung ist auch die Tatsache, dass polnische weibliche Arbeiterinnen, die schwanger sind, sofort nach Bekanntwerden der Schwangerschaft, unabhängig von ihrer Dauer und dem Zeitpunkt ihrer Feststellung, auf Kosten des Arbeitsamtes zurückgeschickt werden sollen. Die Maßnahme führt für alle Fälle das Arbeitsamt durch. Der Reichsarbeitsminister hat darauf hingewiesen, dass unbedingt dafür gesorgt werden muss, dass die Entbindung in der Heimat dieser Angehörigen des polnischen Volkstums stattfindet.“[4] Außer den Betrieben wurden auch die Bürgermeister verpflichtet, Schwangerschaften von Zwangsarbeiterinnen („insbesondere Polinnen“) umgehend dem Arbeitsamt Elmshorn zu melden. Der Landrat monierte weiterhin, dass „in jüngster Zeit polnische Arbeiterinnen, die in der Landwirtschaft beschäftigt waren, in Krankenhäusern des Kreises bzw. in Entbindungsanstalten in Hamburg zur Entbindung gekommen sind.“

Am 20. Oktober 1941 wandte sich der Pinneberger Landrat noch einmal in derselben Angelegenheit an die Bürgermeister des Kreises, machte diese aber nur mit der (fast) wortgleichen Formulierung des ersten Punktes aus dem RAM-Erlass vom 13. August bekannt. Der Landrat unterließ es, u.a. auf den Punkt 2 im RAM-Erlass hinzuweisen: „Von einer Rückbeförderung schwangerer Ausländerinnen kann nur dann abgesehen werden, wenn der Betriebsführer auf die Erhaltung der Arbeitskraft besonderen Wert legt und sich schriftlich verpflichtet, für die weitere Unterbringung der Ausländerinnen und des zu erwartenden Kindes zu sorgen.“ Außerdem fehlte in dem Schreiben des Landrats ein Hinweis auf Punkt 3: „Wenn eine ausländische Arbeiterin nicht mehr rechtzeitig vor der Entbindung in die Heimat zurückbefördert werden kann, weil weder der Betriebsführer noch das Arbeitsamt über die bevorstehende Niederkunft unterrichtet war, hat die Rückbeförderung sofort nach Transportfähigkeit zu erfolgen, sofern sich nicht der Betriebsführer ausdrücklich verpflichtet, für die Unterbringung der Mutter mit Kind zu sorgen.“

Dem Landrat des Kreises Pinneberg kam es vielmehr darauf an, dass ihm in seiner Eigenschaft als Bezirksfürsorgeverband keine zusätzlichen finanziellen Belastungen entstehen und er appellierte deshalb an die Bürgermeister: „Auf die öffentliche Fürsorge sind keinesfalls Kosten, die mit der Entbindung einer ausländischen Arbeiterin zusammenhängen, zu übernehmen, wie auch überhaupt irgendwelche Kosten für ausländische Arbeitskräfte ohne meine Zustimmung übernommen werden dürfen.“[5] Die finanziellen Sorgen des Landrats entbehrten jeglicher Grundlage, denn im RAM-Erlass war ganz deutlich im Punkt 6 formuliert worden: „Die Fürsorgeverbände sind weder mit den Entbindungs- noch mit den Krankenhaus- und etwaigen Heimpflegekosten zu belasten.“[6]

 

Die Auswirkungen dieses Erlasses waren von den Verantwortlichen völlig falsch eingeschätzt worden, denn die Anzahl der Schwangeren nahm jetzt kontinuierlich zu. Bereits am 30. April 1941 hatte der Amtsvorsteher des Amtsbezirkes Koldenbüttel als Ortspolizeibehörde an den Landrat des Kreises Eiderstedt in Tönning geschrieben und moniert: „In der letzten Zeit mehren sich die Fälle von Schwangerschaft unter den Polinnen, die wissen, dass sie ein bis zwei Monate vor der Niederkunft in ihre Heimat abgeschoben werden. Sie betrachten es also als Mittel zum Zweck. Ein Verkehr von Russen mit Polinnen ist mir bisher nicht bekannt geworden, sondern dieselben verkehren nur unter sich. Da der hiesigen Landwirtschaft auf diese Weise viele gute Arbeitskräfte entzogen werden, möchte ich zu bedenken geben, ob nicht mit Strafen, Konzentrationslager oder so, gegen die Betreffenden vorgegangen werden kann.“[7]

Auch im Warthegau war diese Entwicklung aufgefallen, und 1942 wurden erste Überlegungen getroffen, was man dagegen tun könne: „Unter den aus dem Reich Zurückgekehrten befindet sich eine erhebliche Menge von schwangeren Frauen, die, da sie ihrer baldigen Niederkunft entgegensehen, aus dem Arbeitsverhältnis im Reich in ihre frühere Heimat entlassen werden. Die Häufigkeit der Fälle lässt darauf schließen, dass dieser Zustand ein gewollter ist. Es wäre zu erwägen, ob nicht diese Kinder den Müttern unter gewissen Voraussetzungen, nach einer bestimmten Zeit abgenommen werden sollten. Die Kinder guten Blutes könnten in Heime untergebracht werden, während die anderen einer Sonderbehandlung zugeführt werden müssten. M.E. würde dadurch mit einem Schlage die Kinderfreudigkeit bei diesen Polinnen nachlassen.“[8] Diese ersten Überlegungen für eine Abkehr vom Prinzip der Rückführung in die Heimatländer wurden allerdings nicht sofort in die Praxis umgesetzt.

 

„Wg. Schwangerschaft zurück in die Heimat“ (1939-1942)

Im Juli 1942 stellte das Arbeitsamt in Heide noch einen Transport von Rückkehrern zusammen und schrieb dem Landrat des Kreises Norderdithmarschen erläuternd dazu: „Rektor Bruno Meynerts – Heide – ist von hier beauftragt, einen Transport kranker und schwangerer Frauen nach Tschenstochau zu bringen. Ich bitte, Herrn Meynerts einen Durchlassschein auszustellen.“[9]

 

Es könnte sein, dass auch noch im August 1942 in Schleswig-Holstein ein Transport von Rückkehrern in die Heimat zusammengestellt wurde. Das zeigt der Fall der Polin Bronislawa Martynowiczowna, die am 4. März 1924 in Bischofhofen (Kreis Konin) geboren wurde. Als 16-jährige wurde sie gezwungen, ihren „Arbeitseinsatz“ im Deutschen Reich anzutreten. Das Arbeitsamt vermittelte sie am 10. Februar 1941 nach Bordesholm zu Heinrich Willrodt, dem Besitzer eines „Erbhofes“ im Ortsteil Eiderstede. Hier arbeitete sie offensichtlich über ein Jahr und ist dann schwanger geworden. Über die genaueren Umstände sind wir nicht informiert, aber auf ihrer Karte in der „Kartei der ausländischen Zivilarbeiter im 2. Weltkrieg“ des Kreises Rendsburg ist vermerkt: „Am 30. August 1942 wegen Schwangerschaft in die Heimat zurückgeführt, RSHA Berlin am 2. September 1942 in Kenntnis gesetzt.“[10] Das Einschalten des Reichssicherheitshauptamtes war in solchen Fällen vorgeschrieben, da das RSHA ein Duplikat der reichsweiten "Ausländerkartei" führte. Diese Zweitkartei wurde allerdings später bei einem Bombenangriff auf Berlin vernichtet.

Am 23. Oktober 1942 informierte der Bürgermeister von Moorrege den Landrat des Kreises Pinneberg vorschriftsgemäß darüber, dass drei „Russinnen, welche in der Gemeinde Moorrege in Arbeit stehen, in absehbarer Zeit ihrer Niederkunft“ entgegensehen. Der Landrat seinerseits schrieb vier Tage später an das Arbeitsamt in Elmshorn und bat darum, „die Rückführung der drei Russinnen gemäß Runderlass des Herrn Reichsarbeitsministers vom 13.8.41 durchzuführen.“[11] Inwieweit diese Rückführung tatsächlich noch stattgefunden hat, darüber sind wir leider nicht informiert. In Berlin fanden jedenfalls zu diesem Zeitpunkt schon Beratungen darüber statt, die generelle Praxis der Rückführung von Schwangeren in ihre Heimatländer zu beenden und nach Wegen zu suchen, wie die Arbeitskraft dieser Frauen dem Deutschen Reich erhalten bleiben könnte.[12]

 

"Von einer Rückführung aller Schwangeren ist grundsätzlich abzusehen" (ab Dezember 1942)

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© Uwe Fentsahm (Brügge, Juni 2020)


[1] The National Archives (früher Public Record Office), WO 235/447. Das Dokument wurde in dieser Form abgedruckt von Alyn Beßmann, Reimer Möller (u.a.): Die Hamburger Curiohaus-Prozesse, NS-Kriegsverbrechen vor britischen Militärgerichten, Hamburg 2019, S.45.

[2] Marc Spoerer: Die soziale Differenzierung der ausländischen Zivilarbeiter, Kriegsgefangenen und Häftlinge im Deutschen Reich, in: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Bd. 9 (2. Halbband), München 2005, S. 568.

[3] Erlass des Reichsarbeitsministers Franz Seldte vom 13. August 1941, in: Reichsarbeitsblatt Teil I, 1941, S.364.Erlass des Reichsarbeitsministers Franz Seldte vom 13. August 1941, in: Reichsarbeitsblatt Teil I, 1941, S.364.

[4] Schreiben des Landrats an die Bürgermeister des Kreises Pinneberg vom 15. August 1941, in: LASH Abt.320.12 Nr. 933.

[5] Schreiben des Landrats an die Bürgermeister vom 20. Oktober 1941 und das (verspätete) Schreiben des Arbeitsamtes Elmshorn an den Landrat des Kreises Pinneberg vom 28. Oktober 1941, in: ebd.

[6] Erlass vom 13. August 1941, in: Reichsarbeitsblatt Teil I, 1941, S.365.

[7] LASH Abt. 320 Eiderstedt Nr. 1010 (1). Dieses Dokument wurde von Rolf Schwarz (Rendsburg) im Landesarchiv gefunden.

[8] Documenta Occupationis IX (hrsg. von Czeslaw Luczak und Wybor Zrodel, Poznan 1975) Nr. 137, S.200f. Es handelt sich um ein Schriftstück aus dem „Archiv der obersten Kommission zur Untersuchung von NS-Verbrechen in Polen (Warschau) - Material von Jan Sehn, Aktenhefter 41. Fragment der Umsiedlungszentrale im Reichsgau Wartheland für 1942. Maschinenschrift. Kopie.“

[9] Schreiben des Arbeitsamtes Heide an den Landrat des Kreises Norderdithmarschen vom 11. Juli 1942 (unzureichende Quellenangabe: LASH, Abt.320 Norderdithmarschen), faksimile abgedruckt in: „Leben und Arbeiten unter Zwang“ – Dithmarschen 1939-1945, hrsg. vom Werner-Heisenberg-Gymnasium (Heide), der Stiftung gegen Extremismus und Gewalt in Heide und Umgebung und der St. Jürgen Kirchengemeinde Heide, Mai 2009, S.56 (auch online unter https://www.stiftung-geug-heide.de/aktivitaeten/kriegsgraeberprojekt/LebenundArbeitenunterZwang.pdf).

[10] Ein Teil dieser Kartei ist 1977 von Rolf Schwarz auf dem Boden des alten Kreishauses in Rendsburg gefunden worden. Die Karteikarten können heute in fotokopierter Form im Landesarchiv in Schleswig eingesehen werden (LASH Abt.320 RD ungeordnet, Bd. 286, Nr. 10-24). Die Originale befinden sich beim (früheren) Internationalen Suchdienst (International Tracing Service) ITS in Bad Arolsen bei Kassel (heute: Arolsen Archives).

[11] Schreiben des Bürgermeisters vom 23. Oktober 1942 und Schreiben des Landrats vom 27. Oktober 1942, in: LASH Abt.320.12 Nr. 933.

[12] Siehe dazu Bernhild Vögel: „Entbindungsheim für Ostarbeiterinnen“, Hamburg 1999, S.38 f. und Raimond Reiter: Tötungsstätten für ausländische Kinder im Zweiten Weltkrieg, Hannover 1993, S.39 ff.